#Deutschland wählt: Gegründet 2017 – Neue Parteien vor der Bundestagswahl

Mehr als 40 Parteien treten zur Bundestagswahl an. Einige stehen zum ersten Mal auf den Stimmzetteln. Für neue Parteien beginnt die Arbeit aber lange vor dem eigentlichen Wahlkampf.

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Zwölf Minuten haben gefehlt. Zwölf Minuten früher und Thomas Weisgerber und seine Mitstreiter hätten zusätzlich rund drei Millionen Wähler erreicht. Wichtig für eine Partei, die erst seit fünf Monaten offiziell existiert. Weisgerber lebt in Rheinland-Pfalz und wollte dort auch für die neue Partei „Demokratie in Bewegung“ (DiB) in den Wahlkampf ziehen. Aber sein Landesverband gab die nötigen Unterstützerunterschriften zwölf Minuten zu spät ab. Die Konsequenz: Streichung der Landesliste. „Demokratie in Bewegung“ tritt zwar zur Bundestagswahl an, nicht aber in Rheinland-Pfalz.

Alle jungen Parteien, die noch unerfahren sind, kämpfen mit formellen Hürden wie diesen – mit Anträgen, Fristen und formgerechten Protokollen. Im internationalen Vergleich sind wenige Wahlen so genau reguliert wie die deutsche Bundestagswahl. Dennoch treten 2017 so viele Parteien zur Bundestagswahl an wie seit der Wiedervereinigung nicht mehr: 42 Parteien sind es, 16 davon treten gar zum ersten Mal überhaupt an. Der Fünf-Prozent-Hürde zum Trotz gründen Bürger überall im Land Parteien. Einige setzen nur ein einziges Thema auf die Agenda, andere wollen nichts Geringeres, als die gesamte politische Kultur zu revolutionieren.

Während etablierte Parteien wie CDU und SPD erst im aufdrehen, wenn TV-Duell und Haustürwahlkampf anstehen, beginnt die Arbeit neuer Parteien schon Monate zuvor. „Eine Partei zu gründen ist ganz einfach“, sagt Stefan Hornke. Er hat vor vier Jahren die Partei „Die Mitte“ gegründet. „Wenn man aber tatsächlich an einer Wahl teilnehmen möchte, ist das etwas ganz Anderes.“

Auf der Suche nach Unterstützern

Denn dann kommen die Formalien ins Spiel: Interesse anmelden beim Bundeswahlleiter, Landesverbände gründen, Unterstützerunterschriften sammeln. Die braucht man, um vom Bundeswahlleiter zur Bundestagswahl zugelassen und auf die entsprechenden Listen aufgenommen zu werden. Die Anzahl richtet sich nach Größe des Bundeslandes, maximal sind es aber 2000 Unterschriften.

In Rheinland-Pfalz fehlten Weisgerber und den anderen „Demokratie in Bewegung“-Anhängern noch 351 Unterschriften, die nachgereicht werden mussten. Doch die kamen beim Landeswahlleiter nicht fristgerecht an. Ein Parteimitglied geriet auf dem Weg dorthin in einen Stau. Für die DiB-Mitglieder war das höhere Gewalt; für Michael Brenner kein ausreichender Grund. Er sitzt im Bundeswahlausschuss, der über die Zulassung neuer Parteien entscheidet: „Ein Stau ist keine höhere Gewalt. Im heutigen Verkehrsaufkommen muss man damit rechnen und früher losfahren“, meint Brenner. Für Weisgerber und die Vertreter des Landesverbandes bedeutet das: kein Wahlkampf in Rheinland-Pfalz. „Der Frust ist schon sehr groß. Aber wir werden den Landesverbänden in Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg unter die Arme greifen.“

„In jedem Bundesland die nötigen Unterschriften zu sammeln, um überall auf dem Wahlzettel zu stehen, ist für kleine Parteien ein enormer organisatorischer Aufwand. Das haben nicht einmal ‚Die Piraten‘ geschafft“, sagt Tim Spier, Juniorprofessor für das politische System der Bundesrepublik Deutschland an der Universität Siegen.

Der Name reicht nicht aus

Im Gegensatz zu DiB haben sie es geschafft: Bei strahlendem Sonnenschein und mit dem Brandenburger Tor im Rücken feiert die Partei „Bündnis Grundeinkommen“ einen Meilenstein. Die Partei wird auf allen Wahlzetteln vertreten sein, in jedem Bundesland. „Das Grundeinkommen ist wählbar! Auf 60 Millionen Wahlzetteln!“ ruft die Vorsitzende Susanne Wiest durch ein Mikrofon von der Bühne aus ihren Mitstreitern entgegen. Wochenlang haben die rund 250 Mitglieder Unterstützerunterschriften gesammelt.

Die Schwierigkeit dabei: Eine bloße Unterschrift reicht nicht aus. Der Unterstützer muss seine gesamte Anschrift angeben. „Viele sind politisch nicht so gebildet, die denken, wir wollen ihnen eine Waschmaschine verkaufen, wenn wir sie nach ihrer Adresse fragen“, erklärt Wiest. Außerdem dürfe jeder Bürger nur eine einzige Partei unterstützen: „Das ist eine Vorfestlegung, es wäre viel einfacher, wenn jeder mehrere Parteien unterstützen dürfte.“

„Ausdifferenzierung von Interessen“

Trotz Fünf-Prozent-Hürde und formellen Hindernissen steigt die Zahl der Parteien, die am Wahltag üblicherweise unter „Sonstige“ auftauchen. Bei der Bundestagswahl 1972 standen gerade einmal vier Parteien neben den etablierten Parteien CDU/CSU, SPD und FDP auf dem Wahlzettel. Dass das heute anders ist, erklärt Tim Spier mit einer „Ausdifferenzierung der Interessenlagen“. Nicht ein oder zwei große Konflikte dominierten wie früher den politischen Wettbewerb, sondern eine Vielzahl von Positionen und Unterschieden zwischen den Parteien.

Ein Trend, den „Demokratie in Bewegung“ erkannt hat. Die Partei mit ihren rund 250 Mitgliedern hat ein Initiativ-Prinzip entwickelt. Jeder, ob Mitglied oder nicht, kann online eine Initiative einreichen, über die dann auf einer Abstimmungsplattform diskutiert und abgestimmt wird. So will „Demokratie in Bewegung“ die Bürgernähe schaffen, die den etablierten Parteien verloren gegangen ist.

Völlig offen ist aber auch das Prinzip von DiB nicht, denn jede eingereichte Initiative muss erst ein Moderatorenteam passieren, das den Vorschlag darauf überprüft, ob er den Grundsätzen der Partei entspricht. Und die sind: Demokratie, Mitbestimmung, Transparenz, Gerechtigkeit, Weltoffenheit, Vielfalt, Zukunftsorientierung und Nachhaltigkeit. Konservative Positionen, wie etwa der Vorschlag einer Obergrenze für Flüchtlinge, werden es schwer haben, alle Grundwerte zu erfüllen.

16 Landesverbände in fünf Wochen

Immerhin über 90 Initiativen hat „Demokratie in Bewegung“ innerhalb von fünf Monaten gesammelt. Auf dem Bundesparteitag in Köln finden 85 von ihnen schließlich Eingang ins Wahlprogramm. Als die anwesenden Mitglieder das Programm verabschieden, bricht Applaus aus. Anne Isakowitsch koordiniert den Wahlkampf. Sie steht in Köln auf der Bühne und ruft begeistert: „Wir haben 16 Landesverbände in fünf Wochen gegründet. Das haben wir geschafft! Jetzt müssen wir richtig ranklotzen. Der Haustürwahlkampf ist am Effektivsten. Außerdem, geht zu Treffen wie von Amnesty International. Das sind Leute, die uns hundertprozentig wählen würden, die wissen nur noch nichts von uns.“

Noch stehen sowohl „Bündnis Grundeinkommen“ als auch „Demokratie in Bewegung“ am Anfang und hoffen darauf, 0,5 Prozent der Stimmen zu bekommen. Dann rutschen sie in die Parteienfinanzierung und erhalten Geld vom Staat. Was die Zukunft betrifft, hat „Bündnis Grundeinkommen“ klare Vorstellungen: Sobald das Grundeinkommen eingeführt ist, löst sich die Partei auf. „Demokratie in Bewegung“ hingegen will, sollte die Partei wachsen, das Basisdemokratische ihres Initiativprinzips beibehalten. Denn, da sind sich die Mitglieder einig, wer sie wähle, wähle auch eine neue Form von Demokratie.

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  • Datum 12.09.2017
  • Autorin/Autor Lisa Hänel