Susanne Wiest hat eine kühne Idee: 1500 Euro im Monat vom Staat für jeden, ohne jede Bedingung. Dafür zieht sie mit einer neuen Partei in den Wahlkampf.

Als sie noch ein kleines Mädchen war, damals in einem Vorort von München, wusste Susanne Wiest immer ganz sicher, in welcher Verkleidung sie zum Kinderfasching gehen würde. Die langen roten Locken nahmen ihr die Entscheidung ab. Sie war Pippi Langstrumpf, das stärkste Mädchen der Welt, erfunden von der schwedischen Kinderbuchautorin Astrid Lindgren.

Sebastian Balzter

FAZ.net

Da lauert ein Klischee, ein gefährliches noch dazu. Denn diese Pippi ist ja nicht nur furchtlos und bärenstark, sondern auch neunmalklug und ziemlich vorlaut. Wer schlau ist, geht auf Distanz zu der Seefahrertochter. Das Leben sei kein Kinderbuch, Pippi tauge nicht als Vorbild für ein Erwachsenenleben, sagt Susanne Wiest. Es sind ja auch nur noch vier Wochen bis zur Bundestagswahl, und Wiest kandidiert: Sie ist die Vorsitzende einer neuen Partei namens „Bündnis Grundeinkommen“, in Mecklenburg-Vorpommern steht sie ganz oben auf der Landesliste.

Klar, dass sie jetzt vor allem über ihr Programm reden will. Es besteht aus einem einzigen Punkt: In Deutschland soll ein bedingungsloses Grundeinkommen eingeführt werden. Es soll künftig also regelmäßig zum Monatsersten für alle Geld vom Staat geben, wohlgemerkt ohne jede Gegenleistung oder Verpflichtung – und bitte schön genug, um gut davon leben zu können. Wer mehr will, darf dazuverdienen, aber niemand wird dazu gezwungen.

Eine uralte Idee findet neue Freunde

Es ist ein Vorschlag, der unsere Vorstellung vom Arbeitsleben auf den Kopf stellt. Eine echte Pippi-Langstrumpf-Flause, hört man die Kritiker schon ätzen: unrealistisch, unbezahlbar, unverantwortlich. Auf so etwas kann nur kommen, wer, wie Pippi, einen Koffer voller Goldstücke vom Vater mitbekommen hat und es beim Rechnen nicht so genau nehmen muss. Ein gefundenes Fressen für jeden selbsternannten Realpolitiker, der sich im Bierzelt nur zu gerne über einen Haufen Spinner lustig macht.

Aber ganz so einfach ist es mit der Idee vom Grundeinkommen nicht. Erstens steht dahinter eine respektable philosophische und wirtschaftstheoretische Tradition. Wenn Gott die Erde allen Menschen gleichermaßen anvertraut hat, argumentierten die ersten Befürworter des Modells schon im 18. Jahrhundert, dann müssten auch alle Menschen von dem Wohlstand profitieren, der auf dieser Erde erwirtschaftet wird – also her mit der Leibrente für alle, finanziert aus der Grundsteuer. Zweitens hat das Grundeinkommen inzwischen quer durch alle politischen Lager Freunde gefunden, unter erzlinken Umverteilern genauso wie unter eingefleischten Liberalen, die mit dem „Bürgerlohn“ die individuelle Freiheit aus den Banden von Steuerrecht und Sozialleistungen lösen wollen.

Drittens ist die Idee vom sorgenfreien Leben ohne Zwang zur Erwerbsarbeit plötzlich auch da ungeheuer angesagt, wo man das am wenigsten vermuten würde: in den Chefetagen einiger Unternehmen. Da gibt es nicht mehr bloß den bekennenden Anthroposophen Götz Werner, den Gründer der Drogeriemarktkette DM, der schon seit Jahren die Werbetrommel dafür rührt. Auch im Silicon Valley, wo sich die digitale Elite seit neuestem für die Rettung der Welt zuständig fühlt, reden auf einmal alle davon: Wenn Big Data und Kollege Roboter die lästige Arbeit erledigen, so lautet das Kalkül, dann muss es für die Leute, die ihre Arbeit verlieren, einen Ersatz geben.

Susanne Wiest hat nicht darauf gewartet, dass hippe kalifornische Besserwisser das Grundeinkommen preisen. Sie hat einfach selbst damit angefangen, mehr als zehn Jahre ist das jetzt her. Damals arbeitete sie noch als Tagesmutter in einem Dorf in der Nähe von Greifswald, auf der Deutschland-Karte ist das ziemlich weit oben rechts. Wie sie dorthin gelangt ist, erzählt eine Menge über Susanne Wiest. Über ihr Verhältnis zum Geld und zum Acht-Stunden-Regelarbeitstag vor allem, aber auch über ihre Courage.

Die Tagesmutter aus Greifswald

Aufgewachsen ist sie in den Siebzigern und Achtzigern im Speckgürtel von München, als einzige Tochter eines Chirurgen und einer Lehrerin. Mehr gutbürgerlicher Wohlstand geht kaum. Susanne Wiest rebelliert dagegen, zieht noch vor dem Mauerfall nach Berlin, wohnt im Bauwagen zuerst auf einer Brache in Kreuzberg, dann auf einem aufgelassenen Erdbeerfeld draußen vor der Stadt. Billig muss es sein. Denn als die DDR sich auflöst, gibt es in ihren Augen Wichtigeres zu tun, als Geld zu verdienen. Immer wird irgendwo demonstriert, diskutiert. Sie hofft damals, sagt Wiest, im Osten würde eine Alternative zum allgegenwärtigen Materialismus entstehen, vor dem sie von zu Hause Reißaus genommen hatte. „Damit war ich nicht allein. Es wollten ja nicht alle bloß Bananen.“

Dann kommt trotzdem die Einheit, und Helmut Kohl verspricht blühende Landschaften. Susanne Wiest und ihr damaliger Partner bekommen vier Kinder, fahren mit dem Bauwagen durch die Lande, treten als Schausteller auf Mittelaltermärkten auf. So hätte es weitergehen können. Aber als der älteste Sohn eingeschult werden soll, hält sie das Vagabundenleben nicht mehr für angebracht. Freunde empfehlen eine Schule in Mecklenburg-Vorpommern. Ausgerechnet dort, wo die Arbeitslosenquote in Deutschland am höchsten ist, lässt sich die Frau aus dem bayerischen Vollbeschäftigungsparadies nieder, setzt ein verfallendes Haus instand und gründet dort ihren privaten Kindergarten.

Um fünf Kinder kümmert sie sich, deren Eltern tagsüber zur Arbeit pendeln. Dafür bekommt sie 1400 Euro im Monat, von denen sie noch das Mittagessen der Kinder einkaufen muss. Ihre Arbeit erfüllt sie, ihre Leistung wird rundherum anerkannt –, aber die Bezahlung ist so mies, dass sie nur dank der Hilfe ihrer Eltern über die Runden kommt. Der Ernst des Lebens hat Susanne Wiest ohnehin schon längst mit Wucht eingeholt: Ihr erstes Kind war bald nach der Geburt gestorben, das zweite im Grundschulalter bei einem Unfall.

Als Wiest nun im Internet auf einen Eintrag zum Grundeinkommen stößt, liest sie sich fest. Was sie liest, wirkt wie die Lösung für ihr finanzielles Problem. Im Dezember 2008 schickt sie eine Online-Petition an den Bundestag: 1500 Euro im Monat für jeden Erwachsenen und 1000 Euro für jedes Kind, „um allen Bürgern ein würdevolles Leben zu gewährleisten“, so begründet sie den Vorschlag. Der Zuspruch ist überwältigend, mehr als 50.000 Unterschriften kommen zusammen, zwischenzeitlich lässt der Andrang sogar den Bundestagsserver zusammenbrechen. Und die Tagesmutter aus Greifswald wird, auch wenn die Petition im Parlament versandet, zur deutschen Frontfrau des Grundeinkommens.

In der Schweiz stimmte jeder vierte dafür

Es ist also einerseits nur folgerichtig, dass Susanne Wiest nun auch als Parteivorsitzende mit einem aus Spenden finanzierten Mini-Budget Wahlkampf in der Innenstadt von Greifswald macht. Andererseits hält sie, die Parteivorsitzende, von Parteipolitik nach eigenem Bekunden grundsätzlich nichts. Eine Volksabstimmung wäre ihr lieber, behauptet Wiest – so wie in der Schweiz, wo bei einem Referendum über die Einführung eines Grundeinkommens im vergangenen Jahr 23 Prozent dafür gestimmt haben. In Deutschland gibt es diese Möglichkeit nicht. „Die Wahl ist das einzige demokratische Instrument, das uns zur Verfügung steht“, sagt Wiest.

Mehr als das Grundeinkommen hat ihre Partei ganz bewusst nicht im Angebot. Nicht einmal auf die Frage, wie hoch das Grundeinkommen sein und – vor allem – wie es finanziert werden soll, gibt die Partei eine Antwort. Das ist pragmatisch, denn dazu kursieren so unübersichtlich viele Vorschläge, dass jede Festlegung vermutlich interne Grabenkämpfe heraufbeschwören würde. Aber es ist auch ziemlich feige, denn so lässt sich eben nicht beurteilen, ob es um eine ernstzunehmende Sozialreform oder den Faulenzertraum vom Schlaraffenland geht. Eine Billion Euro, haben andere ausgerechnet, würde das bedingungslose Grundeinkommen im Jahr kosten, mehr als die gesamten Steuereinnahmen von Bund, Ländern und Gemeinden.

„Wir wollen niemanden bevormunden, deshalb überlassen wir die Details der parlamentarischen Debatte“, verteidigt Susanne Wiest die Leerstelle im Wahlprogramm, skizziert dann aber immerhin ihr persönliches Modell: 1500 Euro im Monat für jeden Erwachsenen. Sozialleistungen, die bisher darüber liegen, werden weiter bezahlt. Im Gegenzug wird die Mehrwert- oder Umsatzsteuer erhöht. Außerdem könnte eine Steuer auf alle Arten von Bezahlvorgängen hinzukommen – das hätte die in Wiests Augen erfreuliche Nebenwirkung, Spekulationen mit großen Beträgen weniger attraktiv zu machen.

Kaum einer werde sich auf die faule Haut legen

Ob Finanzexperten das für eine gute Idee halten oder nicht, lässt sie kalt. Genauso wie die Statistiken, die den allgemeinen Wohlstand im Land belegen, sinkende Arbeitslosenquoten und steigende Löhne. Susanne Wiest hält sich lieber an die Gespräche mit Freunden und Passanten, die ihr berichten, wie frustriert sie vom Hamsterrad der Erwerbsarbeit sind, wie ihnen die Angst vor Hartz IV die Luft zum Leben nimmt, wie sie sich abgehängt fühlen vom Reichtum, den andere scheffeln. Sie selbst wäre heute auch auf die Grundsicherung angewiesen, wenn sie nicht mit 50 Jahren immer noch Geld von ihren Eltern bekäme. Eine Krankheit hat sie berufsunfähig gemacht, dafür hatte sie nicht vorgesorgt. Vor dem Lebens- und Arbeitsmodell ihrer Eltern äußert sie entsprechend großen Respekt, auch vor den Segnungen des Kapitalismus der vergangenen Jahrzehnte. Aber jetzt, wo die Steuern sprudeln und die Roboter bereitstehen, sei es Zeit für etwas Neues, Zukunftsträchtiges.

Und nehmen die anderen Parteien im Wahlkampf nicht auch das allgemeine Unbehagen auf? Die SPD sowieso, aber auch die CDU, die „Für gute Arbeit und gute Löhne“ plakatiert. Mit dem Grundeinkommen, glaubt Susanne Wiest, wäre die Sache geritzt. Dann müsste niemand mehr eine schlechtbezahlte Arbeit annehmen. Kaum einer werde sich dann einfach auf die faule Haut legen, glaubt sie, aber es würde endlich mehr um den Sinn der Arbeit gehen als ums Geld. „Auf dem Wochenmarkt kann mich ja auch niemand zwingen, eine faule Birne zu kaufen“, sagt sie. „Warum sollen auf dem Arbeitsmarkt andere Regeln gelten?“

In Nordrhein-Westfalen und im Saarland, wo das Bündnis Grundeinkommen schon zu den Landtagswahlen angetreten ist, kam die Partei auf weniger als 0,1 Prozent der Stimmen. „Für uns ist es der größte Erfolg, dass wir überhaupt in ganz Deutschland auf dem Wahlzettel stehen“, sagt Susanne Wiest. Sie selbst wird nicht in den Bundestag einziehen, so viel ist sicher: Im Wahlkreis 15, wo sie kandidiert, tritt sie gegen Angela Merkel an.

Susanne Wiest

… kommt 1967 als Tochter einer Lehrerin und eines Arztes zur Welt und wächst am Rand von München auf. Nach dem Abitur beginnt sie eine Ausbildung als Fotografin, bricht diese jedoch ohne Abschluss ab. 1989 zieht sie nach Berlin, wohnt in einem Bauwagen, hält sich mit Gelegenheitsjobs und als Schaustellerin über Wasser. Heute wohnt sie in einem Dorf nahe Greifswald, hat zwei erwachsene Söhne und ist Vorsitzende der neu gegründeten Partei „Bündnis Grundeinkommen“ (BGE). Einziger Programmpunkt ist die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens. Danach will sich die Partei wieder auflösen.

Quelle: F.A.S.